Du hast vielleicht eine Meise, da oben ist ja die Welt alle. Doch auch Jörg
hatte das Nordkap im Sinn, und so waren wir uns schnell einig. Man sollte nicht nur
über eine Sache reden, sondern einfach organisieren und machen. Deshalb wurde
gleich mein älterer Bruder Ralf über den Plan informiert. Er bereist Norwegen
schon seit einigen Jahren und sollte uns ein paar gute Tipps für die Reiseplanung
geben. Doch der entschied beim zweiten Treffen: Wenn du noch eine Schwalbe für
mich hast und ihr mich dabei haben wollt, fahre ich mit." Wir versuchten unser
Vorhaben so lange wie möglich geheim zu halten. Doch im April 2006 sickerte es
durch. Die örtliche Presse erschien für Interviews und Fotos, und das nicht
nur einmal. Selbst ein Rundfunksender meldete sich an.
Zum Start am 16.Juli 2006 um Mitternacht, waren viele Freunde und Bekannte gekommen,
sogar der Bürgermeister der Stadt Ziegenrück ließ es sich nicht nehmen,
uns noch die Hand zu schütteln.
Gut fünfhundert Kilometer sollten es auf der ersten Etappe von Ziegenrück
bis nach Rostock werden, wo wir die Nachmittagsfähre erreichen mussten. Planmäßig
und ohne Probleme kamen wir im Rostocker Fährhafen an und genossen bei herrlichem
Wetter die Überfahrt ins dänische Gedser. Auf der Insel Mön bauten wir
unsere Zelte auf und ließen den Tag geruhsam ausklingen. In den nächsten
zwei, drei Tagen wollten wir nämlich so weit wie möglich vorankommen.
Nach zwei anstrengenden Etappen durch Süd-Schweden erreichten wir in der dritten
Nacht die Schwedisch-Norwegische Grenze.
Wir fuhren weiter, bis es wieder hell wurde, und legten uns fünf Uhr morgens,
ohne die Zelte aufzubauen, einfach ins Gras. Wecken war gegen elf Uhr angesagt. Ralf
hatte schon Kaffee gekocht - nach unserem ungeschriebenen Gesetz: der erste, der aufsteht,
kümmert sich um den Frühstückstisch. Das tägliche Mittagessen gab
es am Ende einer Tagesetappe, also spät abends oder auch mitten in der Nacht.
Unser großes Etappenziel war der Geirangerfjord. Der Weg dorthin führte
durch den Oslofjordtunnel, weiter nach Dramen, über Honefoss, Fagernes und durch
den Jotunheimen-Nationalpark nach Lom. Bei Bilderbuchwetter sowie einer faszinierenden
Naturkulisse kamen wir in der fünften Nacht gegen 23 Uhr im kleinen Örtchen
Geiranger an - und staunten: Nach endlosen Kilometern durch das Landesinnere, über
riesige Bergmassive mit kurvenreichen, langen steilen Anstiegen und Abfahrten stehst
du plötzlich vor einer großen Fähre und fragst dich, wie die wohl hier
her gefunden haben soll. Der Geirangerfjord wurde 2005 zum Weltkulturerbe erhoben und
ist samt seiner kleinen Örtchen längst ein Touristen-Magnet.
Auch wir fielen mit unseren Schwalben bei Einheimischen und Touristen wieder auf und
bekamen fast immer die gleichen Fragen gestellt: Wo kommt ihr her, was sind das für
Mopeds?, und als wir unser Reiseziel nannten, hörten wir meistens "Was bis
zum Nordkap wollt ihr? Ein bisschen verrückt seid ihr schon."
Wir ließen uns viel Zeit bei der Rast und genossen die grandiose Landschaft,
ehe es weiter nach Eidsdal zu unserem Nachtlager ging. Erst am früheren Nachmittag
brachen wir wieder auf. Die Straße führte zunächst ein kurzes Stück
am Fjord entlang, ehe sie wieder steil anstieg und in unzählige Serpentinen über
die Berge führte. Auf halber Höhe - am steilsten Stück - blieb plötzlich
Jörgs Schwalbe stehen. Die erste Panne, aber der Fehler war schnell gefunden:
Nur eine verstopfte Düse im Vergaser.
Auf der anderen Seite der Eidstalalpen ging es wieder steil die Berge hinab. Es war
schon nach Mitternacht, als wir in Eidstalen am Nordtalsfjord ankamen. Mitten im Ort
schlugen wir unser Nachtlager auf, um am anderen Morgen mit der Fähre den Nordtalsfjord
zu überqueren und dann weiter in Richtung Trollstiegen zu fahren. Die Trollstiegen
ist eine in den Fels gebaute, enge Straße mit elf Serpentinen. Von der Aussichtsplattform
der Trollstiegen gibt es einen traumhaften Blick auf die Romsdalalpen, mit fast neunzig
schneebedeckten Gipfeln. Weiter ging es nach Andalsnes, über Sunndalsöra,
Trontheim und immer der E6 folgend nach Norden.
Nach dem Frühstück fuhren wir immer zwei Stunden und schafften damit rund
100 Kilometer. Dann eine halbe Stunde Pause, wieder eine Stunde gefahren, die nächste
Pause und so weiter. Nach fünf bis sechs Stunden wurden nur noch Dreißig
- Minuten - Etappen gefahren, um schleichender Müdigkeit vorzubeugen. So haben
wir jeden Tag zwischen 350 und 500 Kilometer zurückgelegt. Je näher wir dem
Nordkap kamen, desto länger war es hell.
Irgendwann wurde es gar nicht mehr dunkel und wir mussten uns zum Schlafen zwingen
- fast immer an herrlichen Seen oder Wasserfällen. Wie zum Beispiel in Levang
, wo wir uns zwei Motorboote mit je vier PS mieteten ( für die man keinen Führerschein
braucht ) und mit der Angel auf den Fjord hinaus fuhren. Nach zweieinhalb Stunden hatten
wir genug Fisch für die nächsten drei Tage.
Die Straßen hinter dem Polarkreis sind unendlich lang, die Vegetation zieht sich
zurück und es gibt nur steppenartige Gräser und Moose auf den Höhenzügen
Irgendwann wurde es gar nicht mehr dunkel, und wir mussten uns zu ein paar Stunden
Schlaf regelrecht zwingen
Kein Bau, kein Strauch, dennoch faszinierend. Je weiter wir nach Norden vordrangen,
umso schöner wurde die Landschaft. Am Saltfjellet-Svartisen-Nationalpark entlang
ging es nach Fauske, danach durchfuhren wir den 4400 Meter langen Kobbskaret-Tunnel
und suchten uns in der Nähe von Mörsboten unweit der E6 einen Übernachtungsplatz.
Es war weit nach Mitternacht, als wir unser Nachtlager aufbauten. Am Lagerfeuer wurde
der letzte selbst geangelte Fisch gegrillt. Gegen zwei Uhr in der Früh entdeckte
uns der Fahrer einer BMW.
Wolfgang aus München war auf der Heimreise Vom Nordkap. Gerne nahm er unsere Einladung
zum Fischessen an und zog eine Flasche Whisky aus seinem Reisegepäck hervor.
Die Überfahrt von Skutvik mit der Fähre nach Svolvaer, der Hauptstadt der
Lofoten, war ein Erlebnis. Schroffe Felsen an vielen der kleineren Inseln, wunderschöne
kleine Fischerhäuser, sattes, saftiges Grün auf den Ebenen und riesige Bergmassive.
Von dort aus fuhren wir auf der E10 in südliche Richtung, um zwischen Smorten
und Leknes am herrlichen Sandstrand von des kleinen Örtchens Utakleiv zu übernachten.
Um uns herum grasten frei laufende Schafe, einige wären am liebsten in eines der
Zelte gekrochen, denn draußen war es kühl und windig. Hinter den Zelten
erhob sich ein riesiges Bergmassiv , das fast senkrecht in den Himmel ragte. Es war
ein gigantischer Anblick, unsere winzigen Mopeds vor solch einer Kulisse.
Den nächsten Morgen ließen wir ruhig angehen. Ausschlafen, frühstücken
und dann zum nahe gelegenen Nussfjord mit seinem gleichnamigen Fischerdorf mit dem
typischen Gestellen, auf denen Stockfisch zum Trocknen aufgehängt wird. Wir hatten
das Glück, den Reeder der Fischerei-Gesellschaft zu treffen. Er klärte uns
über die Schon -und Fangzeit sowie die Verarbeitung der Fische auf. Der größte
Teil wird exportiert, die gute Qualität geht nach Italien, die weniger Gute wird
nach Afrika verkauft.
Weiter ging es auf der E10 in Richtung Narvik, zwischendurch mal wieder auf die Fähre.
Während der Überfahrt von Fiskeböl nach Melbu auf die Vesteralen fiel
uns ein vollbesetzter Reisebus aus Thüringen auf. Der Fahrer verkaufte uns ein
paar Büchsen Bier und erzählte dabei, wie kurz vor dem Fährhafen bei
Fiskeböl die Radarfalle zuschnappte und er wenige Meter später für sechs
km/h über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit mit gut 400 Euro Bußgeld
zur Kasse gebeten worden war.
Immer wieder fuhren wir an riesigen Trollsteinen vorbei, die vor oder neben Gebäuden
lagen. Trollsteine sind Findlinge aus der Eiszeit, in denen der Sage nach die lustigen
Trolle wohnen. Die gnomenhaften Gesellen bringen den Menschen Glück und beschützen
sie vor Missgeschicken und Unglück. Wenn man sie gut behandelt. Die Skandinavier
bauen lieber ihr Haus an eine andere Stelle, als dass sie so einen Trollstein versetzen
würden.....
Unser nächstes Ziel war die etwa 300 Kilometer entfernte Husky-Farm von Björn
Klauer im kleinen Ort Innset. Björn und mein Bruder Ralf kennen sich schon einige
Jahre. Der Weg dorthin führt über einige riesige Brücken, über
Flüsse und Fjorde. Die Hundefarm liegt in einem großen Tal direkt am See,
und während uns der Hausherr und seine Lebensgefährtin Regine begrüßten,
veranstalteten 55 Huskys einen Riesenkrach. "Fütterungszeit", lachte
Björn, und wir beobachteten, dass jedes Tier augenblicklich mit dem Bellen aufhört,
sobald sein Fressnapf gefüllt wird.
Wir bleiben zwei Tage. Nachdem unsere Schwalbendurchgecheckt waren, war Faulenzen angesagt
- und eine tolle Kanu-Tour mit Lachsfilet vom Grill auf einheimische Art mit dem entsprechenden
Gewürzen. Die Fisch-Teile wurden auf einem Holzbrett mit kleinen Holzspießen
befestigt und dann langsam am Feuer gegart.
Gerne wären wir länger geblieben, aber wir mussten weiter. Schweren Herzens
brachen wir auf. Bis zum Nordkap waren es noch zwei Tagesetappen. In der Region Troms
machten wir Rast bei einigen Samenzelten. Trotz gut 30 Grad Celsius im Schatten genehmigten
wir uns einen im Samenzelt zubereiteten Kaffee. In der Zeltmitte brannte ein Feuer,
auf dem einige Kessel mit Rentiergulasch und -suppe standen. In den anderen Samenzelten
wurden Souvenirs angeboten - von der Ansichtskarte bis zum Elch-Geweih.
Weiter ging es über Oteren an der Küste entlang nach Storslett. Der Straßenverlauf
in dieser Region ist nicht nur für Motorradfahrer eine Herausforderung. Die Straße
ist stellenweise sehr eng und die Kurven sehr unübersichtlich. Und es tauchen
nicht nur Wohnmobile plötzlich auf, sondern auch der eine oder andere Vierzig
- Tonner.
Ralf führte uns zum letzten Übernachtungsplatz vor dem Ziel. Wir fuhren noch
mal von der E6 ab und rund 16 km in westliche Richtung bis zu dem Örtchen Steinwiek
Ein paar Häuser, in eine zauberhafte Bucht direkt am Meer erbaut.
Abends machten wir es uns am Lagerfeuer gemütlich und schauten stundenlang der
Mitternachtssonne nach. Bei dieser unbeschreiblichen Kulisse wird man schnell sentimental-
aber auch das gehört zu so einer Tour. Du stehst am Strand, schaust aufs Meer
hinaus, genießt die Stille und den herrlichen Ausblick und denkst an den Rest
der Familie, die du jetzt gerne bei dir hättest.
Diese Nacht sollte wieder einmal etwas länger als gewohnt werden und wir schliefen,
bis die Sonne uns weckte. Nach einem ausgiebigem Frühstück starteten wir
zur letzten Etappe. Das Wetter konnte nicht besser sein. Kein Wölkchen am Himmel.
So macht Mopedfahren auch nach zwei Wochen noch Spaß.
Den Verlauf der Küstenstraße konnten wir meist kilometerweit voraussehen.
Von Alta ( wo die Schwalben noch mal aufgetankt wurden) bis nach Skaidi waren es nur
noch hundert Kilometer, was für uns nur noch zwei Stunden Fahrzeit bedeutete.
Es war erst sieben Uhr am Abend. Bis nach Honningsväg fuhren wir am Posangerfjord
ebenfalls an der Küste entlang, und immer noch warnten Schilder vor Rentieren.
Die standen oftmals in größeren Herden oder einzeln nicht nur direkt an,
sondern sogar mitten auf der Straße. Am linken Straßenrand ragten mitunter
steile Felswände in die Höhe, rechts das zerklüftete Ufer - und dann
auch noch Rentiere auf der Fahrbahn.
Immer öfter tauchten nun Hinweisschilder zum Nordkap auf und nannten die restlichen
Kilometer dorthin. Noch ehe wir Honningsväg erreichten, mussten wir durch den
fast sieben Kilometer langen Nordkaptunnel. Er führte zunächst dreieinhalb
Kilometer bergab auf 212 Meter unter Meeresspiegel ,um dann wieder dreieinhalb Kilometer
anzusteigen. Am tiefsten Punkt des Tunnels sind rechts und links der Fahrbahn große
Hallen, diese dienen als Ausweichstellen für defekte Fahrzeuge.
Unmittelbar nach der Tunneldurchfahrt trafen wir ein Wohnmobil aus Thüringen.
Unsere Landsleute waren auf dem Rückweg vom Kap, berichteten von Nebel und von
Sichtweiten gleich Null und meinten, dass wir uns den Weg dorthin sparen könnten,
weil die Mitternachtssonne nicht zu sehen sei. Doch diese Nachricht konnte uns nicht
abschrecken, schließlich war das Kap unser Ziel. Vom Tunnel bis dorthin waren
es noch 45 Kilometer, also ungefähr eine Stunde Fahrt, dachten wir. Es wurde spürbar
kälter, und der vorausgesagte Nebel bahnte sich tatsächlich an. Wir streiften
den Ort Honningsväg und mussten noch ein paar Steigungen überwinden, bevor
es auf der schmalen Straße im jetzt immer dichter werdenden Nebel ans Nordkap
weiter ging. Auf den letzten 15 Kilometern mussten wir uns durch eine Suppe kämpfen,
die nur noch Sichtweiten von zwei bis drei Metern ermöglichte.
Als wir endlich am Nordkap ankamen herrschte dichter Nebel. Doch die nordischen
Götter sollten uns gnädig sein
Das bedeutete für uns, so dicht auf den Vordermann aufzufahren, um noch dessen
Rücklichter erkennen zu können. Die weitaus größere Gefahr waren
aber nach wie vor die Rentiere, die urplötzlich vor einem auftauchen konnten.
Am 31.Juli 2006 um 22.30 Uhr war es endlich soweit. Wir erreichten das ersehnte Nordkap.
Sofort waren wir vollständig durchgefroren. In den Tagen zuvor konnten wir fast
immer sommerliche Temperaturen von 25 bis 30 Grad Celsius genießen, nun waren
es nur noch 5 Grad.
Von der Mitternachtssonne war wegen dichten Nebels nichts zu sehen. Doch die nordischen
Götter meinten es doch noch gut mit uns: Punkt null Uhr kam die Mitternachtssonne
für wenige Augenblicke zum Vorschein. An der Weltkugel wurde das obligatorische
Erinnerungsfoto geschossen. Und jeder von uns war froh, dass es bis hier hin keine
größeren Pannen gegeben hatte. Es waren zwei unvergessliche Wochen, in denen
wir viele Leute kennengelernt und herrliche Landschaften gesehen haben. Doch plötzlich
wurde uns bewusst, dass ab jetzt jeder Meter wieder zurück nach Hause führt
und noch einmal über 3500 Kilometer bewältigt werden wollen.
Nach einer Stunde im kalten, dichten Nebel genehmigten wir uns in der Gaststätte
einen heißen Kaffee und wärmten uns erst einmal auf. Wir hatten ursprünglich
eine Übernachtung am Nordkap geplant, aber wegen des unwirtlichen Wetters, zogen
wir es vor, die 45 Kilometer bis zum Tunnel zurück zu fahren. Auf dem Rastplatz
dort herrschten nämlich schon wieder Temperaturen um die 20 Grad Celsius. Natürlich
konnte keiner von uns einschlafen, obwohl es mittlerweile 4.30 Uhr in der Früh
war. Aber die Sonne stand in voller Pracht am Himmel und außerdem waren wir von
den Erlebnissen der vergangenen Stunden noch zu aufgewühlt.
Die Rückreise führte uns durch Finnland, Schweden und über die Ostsee.
Auch hier lernten wir wieder viele freundliche Menschen kennen. Über die Zuverlässigkeit
unserer drei Schwalben auch nur ein Wort zu verlieren, hieße Eulen nach Athen
zu tragen. Die50-ccm-Zweitakter summten vier Wochen Später bei unserer Ankunft
in Ziegenrück jedenfalls immer noch so, als wären wir eben erst losgefahren.
|