Die Simsons

Mein Sohn Jörg hat im Juli 2005 den Moped-Führerschein erhalten. Bereits am Tag darauf starteten wir beide mit unseren Simsons zu einer kleinen Reise vom heimischen Ziegenrück in Thüringen zunächst an die Ostseeküste und auf die Insel Rügen, weiter nach Dänemark zur Insel Bornholm und wieder zurück. Gut 1500 Kilometer ohne nennenswerte Pannen. Die regionale Presse berichtete über unsere Tour und wir wurden gefragt, was wir denn als nächstes für Pläne hätten.
Eigentlich hatten wir erst einmal genug. Das nächste mal vielleicht bis ans nördlichste Ende von Dänemark, nach Skagen, meinte ich. Das sei ja nur ein Katzensprung weiter und spontan entgegnete ich, dass dann schließlich nur noch das Nordkap übrig bliebe. Als ich später auf die Landkarte schaute, ist mir erst einmal richtig schlecht geworden.

Das Mittagessen gab es immer erst am Ende einer Etappe und wenn es spät abends oder mitten in der Nacht war

Du hast vielleicht eine Meise, da oben ist ja die Welt alle. Doch auch Jörg hatte das Nordkap im Sinn, und so waren wir uns schnell einig. Man sollte nicht nur über eine Sache reden, sondern einfach organisieren und machen. Deshalb wurde gleich mein älterer Bruder Ralf über den Plan informiert. Er bereist Norwegen schon seit einigen Jahren und sollte uns ein paar gute Tipps für die Reiseplanung geben. Doch der entschied beim zweiten Treffen: Wenn du noch eine Schwalbe für mich hast und ihr mich dabei haben wollt, fahre ich mit." Wir versuchten unser Vorhaben so lange wie möglich geheim zu halten. Doch im April 2006 sickerte es durch. Die örtliche Presse erschien für Interviews und Fotos, und das nicht nur einmal. Selbst ein Rundfunksender meldete sich an.

Zum Start am 16.Juli 2006 um Mitternacht, waren viele Freunde und Bekannte gekommen, sogar der Bürgermeister der Stadt Ziegenrück ließ es sich nicht nehmen, uns noch die Hand zu schütteln.
Gut fünfhundert Kilometer sollten es auf der ersten Etappe von Ziegenrück bis nach Rostock werden, wo wir die Nachmittagsfähre erreichen mussten. Planmäßig und ohne Probleme kamen wir im Rostocker Fährhafen an und genossen bei herrlichem Wetter die Überfahrt ins dänische Gedser. Auf der Insel Mön bauten wir unsere Zelte auf und ließen den Tag geruhsam ausklingen. In den nächsten zwei, drei Tagen wollten wir nämlich so weit wie möglich vorankommen.
Nach zwei anstrengenden Etappen durch Süd-Schweden erreichten wir in der dritten Nacht die Schwedisch-Norwegische Grenze.
Wir fuhren weiter, bis es wieder hell wurde, und legten uns fünf Uhr morgens, ohne die Zelte aufzubauen, einfach ins Gras. Wecken war gegen elf Uhr angesagt. Ralf hatte schon Kaffee gekocht - nach unserem ungeschriebenen Gesetz: der erste, der aufsteht, kümmert sich um den Frühstückstisch. Das tägliche Mittagessen gab es am Ende einer Tagesetappe, also spät abends oder auch mitten in der Nacht.
Unser großes Etappenziel war der Geirangerfjord. Der Weg dorthin führte durch den Oslofjordtunnel, weiter nach Dramen, über Honefoss, Fagernes und durch den Jotunheimen-Nationalpark nach Lom. Bei Bilderbuchwetter sowie einer faszinierenden Naturkulisse kamen wir in der fünften Nacht gegen 23 Uhr im kleinen Örtchen Geiranger an - und staunten: Nach endlosen Kilometern durch das Landesinnere, über riesige Bergmassive mit kurvenreichen, langen steilen Anstiegen und Abfahrten stehst du plötzlich vor einer großen Fähre und fragst dich, wie die wohl hier her gefunden haben soll. Der Geirangerfjord wurde 2005 zum Weltkulturerbe erhoben und ist samt seiner kleinen Örtchen längst ein Touristen-Magnet.
Auch wir fielen mit unseren Schwalben bei Einheimischen und Touristen wieder auf und bekamen fast immer die gleichen Fragen gestellt: Wo kommt ihr her, was sind das für Mopeds?, und als wir unser Reiseziel nannten, hörten wir meistens "Was bis zum Nordkap wollt ihr? Ein bisschen verrückt seid ihr schon."
Wir ließen uns viel Zeit bei der Rast und genossen die grandiose Landschaft, ehe es weiter nach Eidsdal zu unserem Nachtlager ging. Erst am früheren Nachmittag brachen wir wieder auf. Die Straße führte zunächst ein kurzes Stück am Fjord entlang, ehe sie wieder steil anstieg und in unzählige Serpentinen über die Berge führte. Auf halber Höhe - am steilsten Stück - blieb plötzlich Jörgs Schwalbe stehen. Die erste Panne, aber der Fehler war schnell gefunden: Nur eine verstopfte Düse im Vergaser.
Auf der anderen Seite der Eidstalalpen ging es wieder steil die Berge hinab. Es war schon nach Mitternacht, als wir in Eidstalen am Nordtalsfjord ankamen. Mitten im Ort schlugen wir unser Nachtlager auf, um am anderen Morgen mit der Fähre den Nordtalsfjord zu überqueren und dann weiter in Richtung Trollstiegen zu fahren. Die Trollstiegen ist eine in den Fels gebaute, enge Straße mit elf Serpentinen. Von der Aussichtsplattform der Trollstiegen gibt es einen traumhaften Blick auf die Romsdalalpen, mit fast neunzig schneebedeckten Gipfeln. Weiter ging es nach Andalsnes, über Sunndalsöra, Trontheim und immer der E6 folgend nach Norden.
Nach dem Frühstück fuhren wir immer zwei Stunden und schafften damit rund 100 Kilometer. Dann eine halbe Stunde Pause, wieder eine Stunde gefahren, die nächste Pause und so weiter. Nach fünf bis sechs Stunden wurden nur noch Dreißig - Minuten - Etappen gefahren, um schleichender Müdigkeit vorzubeugen. So haben wir jeden Tag zwischen 350 und 500 Kilometer zurückgelegt. Je näher wir dem Nordkap kamen, desto länger war es hell.
Irgendwann wurde es gar nicht mehr dunkel und wir mussten uns zum Schlafen zwingen - fast immer an herrlichen Seen oder Wasserfällen. Wie zum Beispiel in Levang , wo wir uns zwei Motorboote mit je vier PS mieteten ( für die man keinen Führerschein braucht ) und mit der Angel auf den Fjord hinaus fuhren. Nach zweieinhalb Stunden hatten wir genug Fisch für die nächsten drei Tage.
Die Straßen hinter dem Polarkreis sind unendlich lang, die Vegetation zieht sich zurück und es gibt nur steppenartige Gräser und Moose auf den Höhenzügen


Irgendwann wurde es gar nicht mehr dunkel, und wir mussten uns zu ein paar Stunden Schlaf regelrecht zwingen



Kein Bau, kein Strauch, dennoch faszinierend. Je weiter wir nach Norden vordrangen, umso schöner wurde die Landschaft. Am Saltfjellet-Svartisen-Nationalpark entlang ging es nach Fauske, danach durchfuhren wir den 4400 Meter langen Kobbskaret-Tunnel und suchten uns in der Nähe von Mörsboten unweit der E6 einen Übernachtungsplatz. Es war weit nach Mitternacht, als wir unser Nachtlager aufbauten. Am Lagerfeuer wurde der letzte selbst geangelte Fisch gegrillt. Gegen zwei Uhr in der Früh entdeckte uns der Fahrer einer BMW.
Wolfgang aus München war auf der Heimreise Vom Nordkap. Gerne nahm er unsere Einladung zum Fischessen an und zog eine Flasche Whisky aus seinem Reisegepäck hervor.
Die Überfahrt von Skutvik mit der Fähre nach Svolvaer, der Hauptstadt der Lofoten, war ein Erlebnis. Schroffe Felsen an vielen der kleineren Inseln, wunderschöne kleine Fischerhäuser, sattes, saftiges Grün auf den Ebenen und riesige Bergmassive. Von dort aus fuhren wir auf der E10 in südliche Richtung, um zwischen Smorten und Leknes am herrlichen Sandstrand von des kleinen Örtchens Utakleiv zu übernachten. Um uns herum grasten frei laufende Schafe, einige wären am liebsten in eines der Zelte gekrochen, denn draußen war es kühl und windig. Hinter den Zelten erhob sich ein riesiges Bergmassiv , das fast senkrecht in den Himmel ragte. Es war ein gigantischer Anblick, unsere winzigen Mopeds vor solch einer Kulisse.
Den nächsten Morgen ließen wir ruhig angehen. Ausschlafen, frühstücken und dann zum nahe gelegenen Nussfjord mit seinem gleichnamigen Fischerdorf mit dem typischen Gestellen, auf denen Stockfisch zum Trocknen aufgehängt wird. Wir hatten das Glück, den Reeder der Fischerei-Gesellschaft zu treffen. Er klärte uns über die Schon -und Fangzeit sowie die Verarbeitung der Fische auf. Der größte Teil wird exportiert, die gute Qualität geht nach Italien, die weniger Gute wird nach Afrika verkauft.
Weiter ging es auf der E10 in Richtung Narvik, zwischendurch mal wieder auf die Fähre. Während der Überfahrt von Fiskeböl nach Melbu auf die Vesteralen fiel uns ein vollbesetzter Reisebus aus Thüringen auf. Der Fahrer verkaufte uns ein paar Büchsen Bier und erzählte dabei, wie kurz vor dem Fährhafen bei Fiskeböl die Radarfalle zuschnappte und er wenige Meter später für sechs km/h über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit mit gut 400 Euro Bußgeld zur Kasse gebeten worden war.
Immer wieder fuhren wir an riesigen Trollsteinen vorbei, die vor oder neben Gebäuden lagen. Trollsteine sind Findlinge aus der Eiszeit, in denen der Sage nach die lustigen Trolle wohnen. Die gnomenhaften Gesellen bringen den Menschen Glück und beschützen sie vor Missgeschicken und Unglück. Wenn man sie gut behandelt. Die Skandinavier bauen lieber ihr Haus an eine andere Stelle, als dass sie so einen Trollstein versetzen würden.....
Unser nächstes Ziel war die etwa 300 Kilometer entfernte Husky-Farm von Björn Klauer im kleinen Ort Innset. Björn und mein Bruder Ralf kennen sich schon einige Jahre. Der Weg dorthin führt über einige riesige Brücken, über Flüsse und Fjorde. Die Hundefarm liegt in einem großen Tal direkt am See, und während uns der Hausherr und seine Lebensgefährtin Regine begrüßten, veranstalteten 55 Huskys einen Riesenkrach. "Fütterungszeit", lachte Björn, und wir beobachteten, dass jedes Tier augenblicklich mit dem Bellen aufhört, sobald sein Fressnapf gefüllt wird.
Wir bleiben zwei Tage. Nachdem unsere Schwalbendurchgecheckt waren, war Faulenzen angesagt - und eine tolle Kanu-Tour mit Lachsfilet vom Grill auf einheimische Art mit dem entsprechenden Gewürzen. Die Fisch-Teile wurden auf einem Holzbrett mit kleinen Holzspießen befestigt und dann langsam am Feuer gegart.
Gerne wären wir länger geblieben, aber wir mussten weiter. Schweren Herzens brachen wir auf. Bis zum Nordkap waren es noch zwei Tagesetappen. In der Region Troms machten wir Rast bei einigen Samenzelten. Trotz gut 30 Grad Celsius im Schatten genehmigten wir uns einen im Samenzelt zubereiteten Kaffee. In der Zeltmitte brannte ein Feuer, auf dem einige Kessel mit Rentiergulasch und -suppe standen. In den anderen Samenzelten wurden Souvenirs angeboten - von der Ansichtskarte bis zum Elch-Geweih.
Weiter ging es über Oteren an der Küste entlang nach Storslett. Der Straßenverlauf in dieser Region ist nicht nur für Motorradfahrer eine Herausforderung. Die Straße ist stellenweise sehr eng und die Kurven sehr unübersichtlich. Und es tauchen nicht nur Wohnmobile plötzlich auf, sondern auch der eine oder andere Vierzig - Tonner.
Ralf führte uns zum letzten Übernachtungsplatz vor dem Ziel. Wir fuhren noch mal von der E6 ab und rund 16 km in westliche Richtung bis zu dem Örtchen Steinwiek Ein paar Häuser, in eine zauberhafte Bucht direkt am Meer erbaut.
Abends machten wir es uns am Lagerfeuer gemütlich und schauten stundenlang der Mitternachtssonne nach. Bei dieser unbeschreiblichen Kulisse wird man schnell sentimental- aber auch das gehört zu so einer Tour. Du stehst am Strand, schaust aufs Meer hinaus, genießt die Stille und den herrlichen Ausblick und denkst an den Rest der Familie, die du jetzt gerne bei dir hättest.
Diese Nacht sollte wieder einmal etwas länger als gewohnt werden und wir schliefen, bis die Sonne uns weckte. Nach einem ausgiebigem Frühstück starteten wir zur letzten Etappe. Das Wetter konnte nicht besser sein. Kein Wölkchen am Himmel. So macht Mopedfahren auch nach zwei Wochen noch Spaß.
Den Verlauf der Küstenstraße konnten wir meist kilometerweit voraussehen. Von Alta ( wo die Schwalben noch mal aufgetankt wurden) bis nach Skaidi waren es nur noch hundert Kilometer, was für uns nur noch zwei Stunden Fahrzeit bedeutete. Es war erst sieben Uhr am Abend. Bis nach Honningsväg fuhren wir am Posangerfjord ebenfalls an der Küste entlang, und immer noch warnten Schilder vor Rentieren. Die standen oftmals in größeren Herden oder einzeln nicht nur direkt an, sondern sogar mitten auf der Straße. Am linken Straßenrand ragten mitunter steile Felswände in die Höhe, rechts das zerklüftete Ufer - und dann auch noch Rentiere auf der Fahrbahn.
Immer öfter tauchten nun Hinweisschilder zum Nordkap auf und nannten die restlichen Kilometer dorthin. Noch ehe wir Honningsväg erreichten, mussten wir durch den fast sieben Kilometer langen Nordkaptunnel. Er führte zunächst dreieinhalb Kilometer bergab auf 212 Meter unter Meeresspiegel ,um dann wieder dreieinhalb Kilometer anzusteigen. Am tiefsten Punkt des Tunnels sind rechts und links der Fahrbahn große Hallen, diese dienen als Ausweichstellen für defekte Fahrzeuge.
Unmittelbar nach der Tunneldurchfahrt trafen wir ein Wohnmobil aus Thüringen. Unsere Landsleute waren auf dem Rückweg vom Kap, berichteten von Nebel und von Sichtweiten gleich Null und meinten, dass wir uns den Weg dorthin sparen könnten, weil die Mitternachtssonne nicht zu sehen sei. Doch diese Nachricht konnte uns nicht abschrecken, schließlich war das Kap unser Ziel. Vom Tunnel bis dorthin waren es noch 45 Kilometer, also ungefähr eine Stunde Fahrt, dachten wir. Es wurde spürbar kälter, und der vorausgesagte Nebel bahnte sich tatsächlich an. Wir streiften den Ort Honningsväg und mussten noch ein paar Steigungen überwinden, bevor es auf der schmalen Straße im jetzt immer dichter werdenden Nebel ans Nordkap weiter ging. Auf den letzten 15 Kilometern mussten wir uns durch eine Suppe kämpfen, die nur noch Sichtweiten von zwei bis drei Metern ermöglichte.


Als wir endlich am Nordkap ankamen herrschte dichter Nebel. Doch die nordischen Götter sollten uns gnädig sein


Das bedeutete für uns, so dicht auf den Vordermann aufzufahren, um noch dessen Rücklichter erkennen zu können. Die weitaus größere Gefahr waren aber nach wie vor die Rentiere, die urplötzlich vor einem auftauchen konnten.
Am 31.Juli 2006 um 22.30 Uhr war es endlich soweit. Wir erreichten das ersehnte Nordkap. Sofort waren wir vollständig durchgefroren. In den Tagen zuvor konnten wir fast immer sommerliche Temperaturen von 25 bis 30 Grad Celsius genießen, nun waren es nur noch 5 Grad.
Von der Mitternachtssonne war wegen dichten Nebels nichts zu sehen. Doch die nordischen Götter meinten es doch noch gut mit uns: Punkt null Uhr kam die Mitternachtssonne für wenige Augenblicke zum Vorschein. An der Weltkugel wurde das obligatorische Erinnerungsfoto geschossen. Und jeder von uns war froh, dass es bis hier hin keine größeren Pannen gegeben hatte. Es waren zwei unvergessliche Wochen, in denen wir viele Leute kennengelernt und herrliche Landschaften gesehen haben. Doch plötzlich wurde uns bewusst, dass ab jetzt jeder Meter wieder zurück nach Hause führt und noch einmal über 3500 Kilometer bewältigt werden wollen.
Nach einer Stunde im kalten, dichten Nebel genehmigten wir uns in der Gaststätte einen heißen Kaffee und wärmten uns erst einmal auf. Wir hatten ursprünglich eine Übernachtung am Nordkap geplant, aber wegen des unwirtlichen Wetters, zogen wir es vor, die 45 Kilometer bis zum Tunnel zurück zu fahren. Auf dem Rastplatz dort herrschten nämlich schon wieder Temperaturen um die 20 Grad Celsius. Natürlich konnte keiner von uns einschlafen, obwohl es mittlerweile 4.30 Uhr in der Früh war. Aber die Sonne stand in voller Pracht am Himmel und außerdem waren wir von den Erlebnissen der vergangenen Stunden noch zu aufgewühlt.
Die Rückreise führte uns durch Finnland, Schweden und über die Ostsee. Auch hier lernten wir wieder viele freundliche Menschen kennen. Über die Zuverlässigkeit unserer drei Schwalben auch nur ein Wort zu verlieren, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Die50-ccm-Zweitakter summten vier Wochen Später bei unserer Ankunft in Ziegenrück jedenfalls immer noch so, als wären wir eben erst losgefahren.

Dieser Bericht wurde in der Novemberausgabe 2007 der Zeitschrift Klassik Motorrad veröffentlicht.